Der Blatzheimer Kirchenstreit und der Bau der Kirche
100 Jahre Kirchweihfest und 40 Jahre Umbenennung des Kirmesplatzes in Pfarrer-August-Kugelmeier-Platz hängen zusammen. Um den Bau der neuen Kirche hatte es ab 1913 große Meinungsverschiedenheiten in Blatzheim gegeben. Man kann schon von revolutionären Verhältnissen reden.
Zur Kirche hat der Ortsausschuss einen Flyer herausgegeben.
Flyer der Pfarrkirche St. Kunibert als PDF-Dokument
Zum “Blatzheimer Kirchenstrei” und zu Pfarrer August Kugelmeier hat Bernhard Ripp einen Beitrag im Buch “Kerpener Köpfe” geschrieben.
Artikel zu August Kugelmeier als PDF-Dokument
Flyer der Kirche:
August Kugelmeier – Pfarrer in Blatzheim vom 1.8.1913 bis zum 29.4.1914.
Innerhalb weniger Monate kam es in Blatzheim zum großen Kirchenstreit um den Bau der neuen Kirche. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung wurde Kugelmeier versetzt und es kam zu großen Demonstrationen und Kirchenboykott. Über 1000 Leute (von 1.600 Einwohnern) gingen auf die Straße, Laternen wurden eingeworfen, es wurde geschossen…
Im 1988 erschienenen Buch „Kerpener Köpfe – Geschichte in Lebensbildern” vom „Verein der Heimatfreunde Stadt Kerpen e.V.“ hat Bernhard Ripp die Geschichte um den Bau der Kirche und Pfarrer August Kugelmeier in 13. Kapiteln aufgearbeitet.
- Kugelmeier heute
- Kugelmeiers Lebenslauf
- Kugelmeier und die Blatzheimer Ereignisse in der Presse
- Kugelmeiers Auftrag
- Kriterien, warum nicht sofort gebaut wurde
- Kugelmeiers Einsatz für den sofortigen Bau im “Katholischen Hausfreund”
- Die Reaktion der “Gegner”
- Kugelmeiers Versetzung
- Kugelmeiers Beliebtheit beim Volk
- Auswirkungen von Kugelmeiers Versetzung
- Die neue Kirche wird gebaut
- Historische Einordnung
- Versuch einer Wertung
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Kugelmeier heute
“Pfarrer-August-Kugelmeier-Platz” heißt seit dem 19.8.1985 in Blatzheim ein Platz, den niemand so nennt, der noch immer als Kirmesplatz bezeichnet wird. Der Platz soll an das Wirken eines Mannes erinnern, der vom 1.8.19 13 bis zum 29.4.19 14 Pfarrer in Blatzheim war [1], der – je nach sozialem, gesellschaftlichem, politischem Standpunkt – beliebt war, bekämpft wurde, umstritten war und es teilweise heute noch ist. Der Beschluß des Bezirksausschusses Blatzheim/Buir/Manheim vom 19.8.1985 ist ein Beleg hierfür; denn mit der äußerst knappen Mehrheit von 8 Ja-, 7 Nein-Stimmen bei einer Stimmenthaltung wurde der Beschluß zur Namensgebung gefaßt. Der Beschluß des Be-zirksausschusses war quasi der Abschluß von erneuten Diskussionen über einen Mann und eine Zeit, über die in Blatzheim am liebsten auch noch heute geschwiegen wird – vielleicht verständlich, wenn man bedenkt, daß viele Nachkommen der damals Betroffenen in Blatzheim leben. Es war das Verdienst des Arztes Dr. Wolff Geisler, etwas Licht in die Vergangenheit des Jahres 1913/14 gebracht zu haben. Nach umfangreichen Recherchen hatte er genügend Material gesammelt, so daß am Sonntag, dem 24. März 1985, von 8.30 bis 9.00 Uhr im WDR 3 aus seiner Sicht ein Beitrag über Kugelmeier und die Ereignisse in Blatzheim gesendet werden konnte unter dem Thema: “Lebenszeichen. ‚Dä Pastoor bliff hee’. Ein Stück rheinischer Kirchengeschichte, aufgeblättert von Wolff Geisler.” [2]
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Kugelmeiers Lebenslauf [3]
Geboren am 2.10.1862 zu Brenzingen, Pfarre Waldbröl; als gelernter Schuhmacher am 30.7.1883 Eintritt in die Steyler Mission; 17.6.1887 erste Gelübde auf drei Jahre; Arbeit in der Schuhmacherei, Druckerei, Uhrmacherwerkstatt, als Koch und Pförtner; “Juni 1890 liefen seine Gelübde ab; er erneuerte sie nicht, sondern bat um Aufnahme in einen alten Orden, bedauerte aber diesen Schritt bald und wünschte in der Missionsgesell-schaft zu bleiben; eine Erneuerung der Gelübde aber ist nicht registriert”; 1891 Beginn des Studiums in Rom; 1892 Aufnahme durch Bischof Schumacher von Portoviejo in Ecuador: Diakonweihe; Erkrankung bei den Trappisten in Grottaferrata, wo er seine Ferien verbrachte. “Halbwegs wiederhergestellt, reiste er nach Löwen mit dem Gedan-ken, in das Collegium Americanum einzutreten und nach Nordamerika zu gehen, kehrte aber nach wenigen Tagen wieder nach Rom zurück, und setzte hier sein Stu-dium fort. Es gelang ihm, das Wohlwollen des Bischofs einer italienischen Diözese zu gewinnen”; dort Priesterweihe am 23.9.1893; ab Mai 1894 Religionslehrer in Breslau; am 7.3.1895 Verhaftung, weil er 10 Jahre vorher seiner Militärpflicht nicht nachgekom-men war; Verurteilung zu 10 Monaten Festungshaft in Wesel, nach 6 Monaten Begnadi-gung; danach Religionslehrer in Mülhausen (Böhmen); 1897/98 Aushilfstätigkeiten in der Erzdiözese Köln; Juli 1898 Rektor in Düsseldorf-Lohhausen; 1903 Kaplan in Ober-hausen; 1907 Pfarrer in Heiligenhaus; 1.8.1913 (Ernennung) – 29.4.1914 (Versetzung) Pfarrer in Blatzheim; er verließ Blatzheim am 20.5.1914; 1914 Essen-Steele; “1924 rief ihn das Generalvikariat nach Bornheim bei Bonn, wo es galt, eine sehr schwierige Situa-tion innerhalb der Pfarrei zu meistern”; 1929 Eintritt in den Ruhestand und Übernahme einer Seelsorgestelle in Remscheid; in Boisheim und anderswo Vertretung erkrankter Priester; im Krieg Krankenhausseelsorger in Dülken “mit der Verpflich-tung, als zweiter Kaplan in der großen Corneliuspfarre auszuhelfen, wo der 80-jährige wie ein 60-jähriger arbeitete”; 1948 Übersiedlung nach Waldbröl; dort gestorben am 25.1.1951, fast 90-jährig.
Kugelmeier war auch sehr intensiv publizistisch tätig: neben seinen vielfältigen Aufsät-zen und Schriften wurde für Blatzheim die Wochenzeitschrift “Katholischer Hausfreund” mit ihren Artikeln “Was der alte Kirchturm in (Bladersheim) erzählt” bedeutsam. In einem Brief vom 3.7.1914 spricht Kugelmeier davon, daß der Hausfreund “13.000 Abonnenten und … 4-5 mal so viel Leser” habe [4]. In den ersten Kriegsmonaten scheint diese Zeitschrift dann eingegangen zu sein. Der Reinerlös der Zeitschrift war für die Unterstützung bedürftiger katholischer Studenten bestimmt. Be-kannt, berühmt, berüchtigt ist auch heute noch bei vielen Blatzheimern “Der schwarze Rekrut”, eine Schrift, für die Kugelmeier in Anzeigen folgendermaßen warb: “Erleb-nisse eines Priesters in der Untersuchungshaft, auf der Festung und in der Kaserne. Reich illustriert. 75 Pfg. Zu beziehen durch …” “Der schwarze Rekrut” soll in 10.000 Exemplaren verkauft worden sein [5].
Vielleicht sind erste Erkenntnisse aus dem Lebenslauf über Pfarrer Kugelmeier mög-lich: er war weltoffen, erfahren, intelligent, arbeitsam, fürsorglich, vielleicht auch un-stet und unruhig; Konflikten ging er nicht aus dem Weg.
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Kugelmeier und die Blatzheimer Ereignisse in der Presse
Der Blatzheimer Katholiken- oder Kirchenstreit des Jahres 1914 war über Monate hinweg auch ein Thema in den rheinischen Zeitungen. Überschriften wie “Die kochende Volksseele”, “Die Blatzheimer Kirchenrevolution” ‚ “Die streikenden Baldachinträger” oder “Aufruhr in einem Eifeldorf” [6] geben erste Hinweise auf die Ereignisse in Blatzheim. Verschiedene Zeitungen wie die Rheinische Zeitung, die den Sozialdemokraten nahestand, oder der Rheinische Merkur, welcher das Zentrum unterstützte, nahmen das Thema Blatzheim sogar zum Anlaß, politisch aufeinander loszuschlagen. So berichtete die Rheinische Zeitung am 29. Mai 1914 u.a.: “Wie bürgerliche Blätter berichten, ist in dem sonst recht ruhigen und friedlichen Ort Blatzheim … über Nacht schwere Revolution und Aufruhr ausgebrochen … Die Milch der frommen Denkungsart der Blatzheimer Bauern hat sich in gärendes Drachengift verwandelt durch die Starrköpfigkeit einiger Kirchenvorstandsmitglieder, die absolut nicht einsehen wollten, daß … unbedingt eine neue Kirche gebaut werden müsse. Die renitenten Mitglieder des Kirchenvorstandes wollten dem Betbedürfnis der Blatzheimer durch einen Erweiterungsbau an der jetzigen Kirche abhelfen, während Hochwürden und mit ihm die Mehrzahl der Ortseingesessenen sich für eine neue Kirche entschieden hatten. Die aus diesem Anlaß entstandenen kleinen Reibereien arteten in bedenklicher Weise aus, als plötzlich ohne Angabe von Gründen Hochwürden der Blatzheimer Pfründe Valet sagen mußte und im Orte das Gerücht zirkulierte, die Kirchenbaugegner hätten diese Versetzung des Pfarrers veranlaßt. Am Tage der Abreise des Pfarrers brach der Sturm los. Fenster wurden eingeworfen, Häuser beschmutzt, eine Feldscheune und mehrere Strohbarren, alles Eigentum der Familien der mit dem Kirchenneubau nicht einverstandenen Kirchenvorstandsmitglieder, brannten nieder … Ein richtiger Aufruhr war komplett. Auf die Beamten wurde mehrfach geschossen. Die Zentrumspresse, die sonst immer recht schnell bereit ist, jeden harmlosen Straßenkrawall als Früchte sozialistischer Erziehungsarbeit anzusehen, verhält sich gegenüber den Blatzheimer Vorkommnissen merkwürdig reserviert. Augenscheinlich sind dem Zentrum die groben Exzesse, die sogar zur Brandstiftung führten, recht unangenehm. Blatzheim ist ein völlig zentrumstreuer Ort, Sozialdemokraten, die man gerne für die Unruhen verantwortlich machen möchte, kennt man in dem Ort nur vom Hörensagen, und der Öffentlichkeit zu zeigen, wessen ausgearteter klerikalreligiöser Fanatismus fähig ist, hütet sich die Zentrumspresse aus guten Gründen.”
Hierauf druckte der Rheinische Merkur am 4. Juni 1914 eine Antwort, die von “bestinformierter, ortsansässiger Seite” stammte: “Aufruhr und Landfriedensbruch soll nach einem Bericht im farblosen Kölner Tageblatt seit einigen Wochen in unserer Gemeinde herrschen und die sozialdemokratische Rheinische Zeitung weiß sogar … allerlei Mordgeschichten von schwerer Revolution in Blatzheim zu erzählen. Da mag der Wunsch der Vater des Gedankens sein. Wir Blatzheimer haben von der angeblichen Revolution, von Barrikadenbauten, Straßenkämpfen und dergleichen wenig gemerkt. Die Sache ist nicht halb so schlimm, als wie sie gemacht wird. Wenn die roten Bauernfänger und Kirchenfeinde meinen, die augenblicklich hier herrschende Erregung über die Versetzung des Pfarrers für ihre religionsfeindlichen und volksverhetzenden Zwecke ausnützen zu können, so kennen sie die Blatzheimer schlecht …”.
Daß dennoch “etwas los war” in Blatzheim, bestätigt selbst der Rheinische Merkur am 26. Juni 1914: “Das reine Wahrheitsinteresse verpflichtet den Rhein. Merkur, der in Blatzheim das weitest verbreitete Blatt ist, gegen die maßlosen Übertreibungen Front zu machen, wodurch unser Ort vor der Öffentlichkeit als revolutionäres Nest gebranntmarkt werden soll. Neben dem Bemühen, der Pflicht der Wahrheit zu genügen, leitete uns bei unseren Beschwichtigungsnotizen noch ein anderes Interesse, nämlich … dazu beizutragen, daß endlich die so unerquicklichen Geschichten aufhören und Ruhe und Frieden wieder in unserer unter normalen Verhältnissen so friedliebenden Gemeinde einkehren …”.
Abgesehen davon, daß hier versucht wurde, auf höherer Ebene in sehr agitatorischer Weise politisches Kapital zu schlagen, ergibt sich aus diesen Artikeln, daß Pfarrer Kugelmeier in Blatzheim eine neue Kirche bauen wollte, daß er hierbei Gegner hatte, daß er andererseits offensichtlich bei der Bevölkerung sehr beliebt war und daß seine Versetzung Anlaß für eine Menge Unruhe in Blatzheim war.
Zu fragen ist, wie der Streit genau verlief und was letztlich dahintersteckte.
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Kugelmeiers Auftrag
Nach dem Tode des Dechanten Gillissen kam Pastor Kugelmeier nach Blatzheim, “mit dem Auftrag, hier selbst die neue Kirche zu bauen [7].” Pfarrer Kugelmeier schilderte die Situation ca. 30 Jahre später so: “Bei der Anstellung als Pfarrer für Blatzheim wurde mir gesagt: “Sie müssen sorgen, daß baldigst in Blatzheim eine neue Kirche gebaut wird.” Gebaut hatte ich bis dahin schon eine Kirche, eine Kapelle, ein Pfarrhaus, eine Vikarie und ein Kloster. Ich baute gern. Auch später noch habe ich gebaut, umgebaut, restauriert. In Blatzheim standen die Sachen so, daß wirklich baldigst gebaut werden mußte. … Das gesamte Volk war für baldiges Bauen. Nur ein Baron, ein Bürgermeister und einige Großbauern waren dagegen. Es sollte nach ihrem Willen wenigstens noch fünf Jahre gewartet werden. Weshalb? Zu dem vorhandenen Baukapital sollten noch Zinsen kommen. An und für sich kein übler Gedanke. Aber es war ein vollständig hinreichendes Baukapital vorhanden, Stiftungen, Jahrzehnte schon gemacht, unter der Bedingung, bald die neue Kirche zu bauen. Außerdem war die Pfarrgemeinde bereit, aus freiwilligen Spenden für Ausmöblierung zu sorgen. Es war schon Geld bei mir deponiert … So günstig hatte ich es noch nirgendwo gefunden. Ich glaube, da kann man es verstehen, wenn man will, daß ich etwas dahintersetzte, den Kirchenbau möglichst zu beschleunigen [8].” Nach Aussage von Bürgermeister Reichert ging Pfarrer Kugelmeier bei seiner Antrittspredigt auch auf den Kirchenneubau ein: “das, was er sich vorgenommen habe, werde er durchführen, möge es biegen oder brechen [9].” Mittel für den Neubau in Höhe von 120.000 Mark waren tatsächlich vorhanden [10]. Der Neubau sollte so gestaltet werden, daß der alte Turm stehen bleiben, also eine neue Kirche an denselben angebaut werden sollte.
Die Frage stellt sich, warum nicht sofort gebaut werden konnte. Standen objektive Kriterien entgegen? Oder gab es tatsächlich eine “Verschwörung” der Reichen im Gemeinderat und im Kirchenvorstand gegen den sofortigen Neubau? Oder ging es “nur” um Machtpositionen in Blatzheim?
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Kriterien, warum nicht sofort gebaut wurde
Auch wenn schon vorher häufiger vom Neubau der Kirche die Rede war, ergibt sich aus dem Beschluß des Kirchenvorstandes vom 22.2.1913 unter dem Vorsitz von Pfarrer Gillissen, “daß das Kirchendach und das Turmdach und die Seitenschiffe der Kirche dringend der Reparatur bedürftig sei bzw. erneuert werden müßten.” Ein Kostenvoranschlag hierfür lag dem Kirchenvorstand vor. Von Zeichnungen und Plänen für eine neue Kirche ist hier noch nicht die Rede. Hinzu kommt, daß der alte Friedhof, der sich um die Kirche herum befand und der Zivilgemeinde gehörte, von der Kirchengemeinde für den Neubau der Kirche gebraucht wurde, und daß daher ein neuer Friedhof angelegt werden mußte. Die Argumente der “Gegner” Kugelmeiers sind am besten zusammengefaßt in einem Schreiben des zur Zeit des Streits stellv. Kirchenvorstandsvorsitzenden Baron von Loe an den Erzbischof von Köln Felix von Hartmann vom 15.11.1915 [12]: “Es waren wie alle Beteiligten wußten, folgende Vorarbeiten nötig: Erwerb eines Teiles des Zivilkirchhofes von der Zivilgemeinde und Genehmigung eines solchen Rechtsgeschäftes durch Kreisausschuß, Regierung und erzbischöflichen Stuhl. Entscheid der Regierung nach Anhörung des Provinzialkonservators, was von der alten Kirche erhalten bleiben solle. Demnach Anfertigung von Bauentwürfen und Verhandlungen mit Kirchenvorstand, kirchlicher Gemeindevertretung, Regierung und erzbischöflichem Stuhl. Dann nach erzielter grundsätzlicher Einigung Ausarbeitung der eigentlichen Baupläne und Kostenanschläge, deren endgültige Genehmigung auf dem ganzen Instanzenweg. Beschlußfassung des Kirchenvorstandes über die Aufbringung der Gelder, ev. Genehmigung einer Umlage durch die Gemeindevertretung und Behörden.
Regelung der Frage der Kirchhofsruhe. Da zahlreiche ganz frische Gräber auf der beanspruchten Baufläche lagen, mußte mit den sämtlichen Angehörigen verhandelt und deren Zustimmung erzielt werden, ebenso wie hierzu auch die Regierung Stellung nehmen mußte. Nach alle dem konnte erst an die Ausschreibung und Vergebung des eigentlichen Neubaues geschritten werden. Daß alles das noch im Jahre 1914 erledigt werden könnte, hat Pfarrer Kugelmeier selbst nicht angenommen, denn in den letzten Januartagen war er noch gerade vor meiner Abreise zum Parlament bei mir und kamen wir nach eigehender Besprechung der Verhältnisse zu der Überzeugung, daß für die vorbezeichneten Verhandlungen mindestens ein volles Jahr hinginge, zumal auch die Baupläne selber nicht überstürzt werden dürften, da es sich doch um einen Bau handele, der vielen Generationen dienen solle, daß wir sogar froh sein könnten, wenn wir insbesondere die Aufhebung der Gräberruhe in dieser außerordentlich kurzen Zeit erlangen würden. Wir waren dann beide der Ansicht, daß im folgenden Jahr geziegelt werden müßte und der eigentliche Bau frühestens also im Jahre 1916 in Angriff genommen werden könne.”
Fest steht: Erste Maßnahmen wurden seitens des Kirchenvorstandes in die Wege geleitet: Pläne wurden angefertigt, Verhandlungen mit dem Provinzialkonservator wurden aufgenommen, und der Antrag an die Zivilgemeinde auf Überlassung des Friedhofes wurde gestellt.
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Kugelmeiers Einsatz für den sofortigen Bau im “Katholischen Hausfreund”
“Ich habe in der Blatzheimer Geschichte eine spitze Feder geschrieben, das aber nicht der Personen, sondern des Volkswohles wegen.” Diese Worte Kugelmeiers stammen aus seinem Manuskript, aus dem auch noch folgende Aussage wiedergegeben werden soll: “Es ist aber immer so, wenn irgendwo starke Meinungsverschiedenheiten in einer Sache entstehen, so fliegen die Späne hüben und drüben … Man hat gesagt, ich hätte etwas sanfter zu Werke gehen sollen und können. Das schien mir nicht am Platze und schließlich flötet jeder Vogel wie ihm der Schnabel gewachsen ist” [13].
Die “spitze Feder” schrieb Kugelmeier in seiner Wochenzeitschrift “Katholischer Hausfreund”, in der der alte Kirchturm als Berichterstatter auftrat (vgl. Kap. 2), der – so Kugelmeier – sagte und beklagte, was er sah, hörte und gelesen hatte. Ironisch, manchmal vielleicht auch überheblich aufgrund seiner Welterfahrung wirkte die spitze Feder Pfarrer Kugelmeiers in Artikeln, die anfangs nicht direkt mit dem Kirchenbau zu tun haben. So heißt es am 28.9.1913 im Artikel “Von Heiligenhaus nach Blatzheim”: “… Wer auf der Welt, der nur etwas beschlagen in der Geographie ist, wüßte nichts von der Berühmtheit beider Orte Heiligenhaus und Blatzheim? Am ersten Ort verfertigt man Schlösser und Riegel, die in alle Welt wandern: man bringt also hier die Welt in Sicherheit, stellt sie hinter Schloß und Riegel, während man in Blatzheim, wo es eine ganz famose, hochindustrielle Ackerwirtschaft gibt, die Menschen am Leben erhält. In Heiligenhaus gibt’s die besten Schlösser und in Blatzheim das beste Korn, den besten Weizen, den besten Hafer und die süßesten Zuckerrüben; die besten Kartoffeln aber und die allerbesten Menschen gibt’s an beiden Orten … Blatzheim aber hat der Redakteur … herausgefunden, daß dieser Ort eigentlich und auch uneigentlich der Mittelpunkt der Welt ist. Geht man nämlich von Blatzheim aus rund um die Erde, so hat man nach allen Himmelsrichtungen ganz genau dieselbe Entfernung; …” Noch ein Beispiel für Ironie und Anspielungen sei angeführt, und zwar aus dem Artikel “Aus der Heimat des ‚Katholischen Hausfreund”‘ vom 23.11.1913: “…Blatzheim ist sehr alt … Wie es sehr hochbetagte Menschen gibt, die dennoch den Kopf nahe an der Erde behalten haben, die klein geblieben sind, so ist auch Blatzheim trotz des hohen Alters klein geblieben. ‚Klein aber fein’, das heißt; ‚fein’, wenn der Regen die Straßen hübsch gefegt, die Sonne dieselben schön getrocknet hat … Wenn’s klein geblieben ist, so liegt das daran, weil es sich einen ungünstigen Platz auf Erden wählte, aus Bescheidenheit natürlich, jetzt aber hat’s bis zu einem Straßenpflaster noch nicht gebracht: hat aber wenigstens elektrisches Licht und Wasserleitung … Und Pferde, Ochsen, Kühe, Schafe, Rinder, Schweine, Ziegen usw. gibt es ganz großartige Prachtexemplare. Ob’s auch schöne große Esel daselbst gibt, ist möglich. …”
Mit Ironisierungen solcher Art konnte Kugelmeier sicherlich nicht das Wohlgefallen der “Esel” gewinnen, konnte sich aber der Zustimmung und der Freude des “Volkes” sicher sein.
Der “alte Kirchturm in Bladersheim” beginnt mit seiner Erzählung über den Kirchenneubau am 9.11.1913: Voll Freude erzählt der Turm, daß er restauriert und daß eine neue Kirche gebaut werden soll, weil die alte Kirche viel zu klein ist .”Es ist ein Gedränge und eine Luft, daß Gott erbarm… 99,9 Proz. sehnt und verlangt eine größere, schönere gesundere Kirche an meiner Seite. Und seitdem ein stürmischer Brausewind, ebenfalls eine Menschensorte, an den Ort gekommen ist, gibt es weder Gnade noch Pardon für mein mit mir verbundenes Anhängsel; nicht einmal eine Gnadenfrist von 5 Jahren will er gewähren.” Auch erfährt man in dem Artikel, daß Pfarrer Kugelmeier “von Haus zu Haus schreitet”, um für die neue Kirche zu sammeln.
Im Artikel vom 16.11.1913 sind Wandel und Konflikt erkennbar. Der Turm geht hart mit denen ins Gericht, die angeblich aus Pietät vor den Toten – der alte Friedhof war ja vorhanden – noch 10 Jahre warten wollten; massive Vorwürfe über die Zustände des Friedhofes werden erhoben: “…’Die Pietät gegen Tote’ sagt man, ‚soll bewahrt bleiben und in zehn Jahren niemand an die Gräber rühren’. Vielleicht aber rühren andere Tote, die jetzt noch leben, früher schon an längst begrabene Leichen. Jede Stunde, die von mir, dem Turm herunterschlägt, verwundet, und eine, es ist die letzte, tötet, tötet auch den, der so leichtsinnig über zehn Jahre verfügt. Oft schon sah ich in stiller Nacht, wenn alle schliefen, auf dem Friedhof unten, wie schon seit Jahren die Pietät gegen Tote so schlecht gewahrt wurde; sah unzählige Menschenköpfe schimmern, wie faules Holz leuchten, weil in der Erde keinen Platz sie fanden. Kinder sah ich spielen mit Totenköpfen, Hunde trugen Totengebeine davon, auf den Straßen nebenan kann man Menschenknochen finden. … Wo aber bleibt die Pietät gegen die Lebenden? Hunderte Kinder knien lang und hart auf kalten, feuchten Steinen; empörend ist es anzuschauen … Empörend, verabscheuungswürdig, strafbar, da noch lange Jahre warten sollen, ohne jeden Grund…”
Lange schwieg der Turm, bis er am 14.12.1913 wieder mit seiner “Erzählung” fortfuhr. Er zieht in diesem Abschnitt die Vergangenheit zurate, in der trotz aller Widrigkeiten immer wieder die alte Kirche erweitert oder nach dem Brand des Jahres 1785 eine neue gebaut worden ist. “…O Ja! die alten Blootzemer waren keine üblen Menschen, sie besaßen Idealismus und Opfersinn … Sie schauten nicht wie das Vieh zur Erde, wühlten nicht im Staube wie der Maulwurf und Mistkäfer, sondern aufwärts war ihr Blick gerichtet. … Also wird sich die jetzige Generation in Bladersheim ein Beispiel an der in’s Grab gesunkenen, aber dennoch emporgestiegenen Generation der Vorzeit nehmen. … Das alte, häßliche Lied von Aufschieberei will ich nicht mehr hören. … Aufschieb ist ein Tagedieb! Und keiner mehr soll fortan dem Kirchenneubau hindernd und hemmend im Wege stehen…”. Abschließend stellt der Turm zufrieden fest, daß der Friedhof in Ordnung gebracht worden ist und daß “manches Menschengebein … nun ein gebührendes Ruheplätzchen in der Erde gefunden hat.”
Äußerst heftig schreibt Kugelmeier im neuen Jahr, wohl am 21.2.14, in dem Artikel “‚Groß genug’! Für Blotzem von Ernst von Blotzem.” Es findet quasi eine Verhöhnung derjenigen statt, die behaupten, die Kirche sei groß genug. Mittlerweile hatte höchst erfolgreich vom 8. bis zum 17. Febr. die Gemeindemission stattgefunden. Die Kirche war viel zu klein. So heißt es am 1.3.14.: “O, wie das Gotteshaus angefüllt, nicht das kleinste Plätzchen und Winkelchen blieb unbesetzt, selbst der Chor und die Sakristei mußte von den Gläubigen benutzt werden. Stundenlang hat man ausgeharrt in sehr unbequemer Stellung, die Luft war schwül, dumpf und stickig, das Wasser floß vom Niederschlag der Atmung so vieler von den Wänden.”
Doch zurück zum Artikel “Groß genug”!: “‘Die Mission’, so sagt man auch, ‘hat es gezeigt, daß die Blotzemer Kirche noch groß genug, ja eigentlich noch zu groß ist, denn alle Blotzemer gingen hinein und noch Fremde dazu’. … ‘O jo!’ sagt man in Blotzem, ‘bei der hl. Mission waren viele Menschen in der Kirche, aber die sagen, die Kirche ist groß genug’, sitzen gemütlich in gemieteten Bänken …”. Dann wird folgender Vorschlag gemacht: “An den Wänden der Kirche habe ich noch niemanden hängen gesehen. Es ließen sich doch so eine Art Regale anbringen, oder “Schottelbänk”, wie die Bauersleute sie früher in der Küche hatten (man stellte Teller, Schüsseln, Töpfe darauf) und auf diesen könnte man die Kinder aufstellen; oder auch Erwachsene; vielleicht könnte man diese Plätze vermieten. Um Geld zu sparen, könnte man’s einfacher machen, Regale und “Schottelbänke” fortlassen, einfach Haken in hübschen Reihen, in entsprechendem Abstand in die Wände schlagen. Die Leute bekämen dann einen Gurt oder Strick um den Hals, pardon, unter den Armen her, und der Kirchenschweizer könnte sie der Reih nach aufhängen … Aber es läßt sich des Platzes noch mehr schaffen… Da stehen auf verschiedenen Sockeln und Postameriten eine Reihe Heilige. Diese könnte man, weil sie ohnehin abständig und wurmstichig geworden sind, absetzen, und auf die freigewordenen Sockel und Postamente könnte man einige Blotzemer Heilige postieren. Das wären dann allerdings komische Heilige, aber man hätte doch wieder Platz gewonnen …”.
Jeder in Blatzheim wußte, wer gemeint war: Kirchenvorstands- und Gemeinderatsmitglieder, und zwar die Reichen des Ortes – die Gutsbesitzer und reichen Bauern – allen voran der stellv. Vorsitzende des Kirchenvorstandes von Loe und der Bürgermeister Reichert. Die Angriffe Pfarrer Kugelmeiers gerade in dieser Ausgabe der Zeitschrift werden noch stärker: “… Es stimmt auch nicht mit der Moral, wenn einer, der das Volk vertreten und auf das Wohl der Gesamtheit sehen soll, sich von Einigen erbärmlich gebrauchen läßt gegen den Willen der Gesamtheit und gegen das Wohl derselben. Das ist Schulbubenart, Kriecherei, Speichelleckerei und dergleichen mehr… Aber eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus.” Gemeint ist hier offensichtlich Bürgermeister Reichert.
In derselben Ausgabe des “Hausfreund” unter der Überschrift “Ganz leise, bescheidene ‘Frage’ in Blatzheim” erreichen die Angriffe soziale, gesellschaftliche, gar politische Dimension. Die Zitate sprechen für sich: “…Der Kirchenneubau ist eine Gemeinde-, eine Vo1kssache und keine Sache einzelner Personen. …, es ist aber höchst unedel und verwerflich, das ganze Volk terrorisieren zu wollen, ihm das zu verweigern, oder vorenthalten zu wollen, wozu es ein gutes, untrügliches Recht hat … . Es ist wahrhaftig so, wie dieser Tage jemand sagte: “Hätten wir einige Reiche weniger in der Gemeinde, so ginge alles gut, zur allgemeinen Zufriedenheit und zum Nutzen der Gesamtheit.” Weshalb spielen denn solche, die an der Spitze schreiten und löblich den übrigen im Eifer für Gottes Ehre ein gutes Beispiel geben sollten, in der Kirchenbauangelegenheit den Hemmschuh und die Bremse?
Etwa weil die Kirche ein Gemeingut ist und dem Aermsten so viel gehört wie dem Reichsten? … Ist man bange, das Volk möchte durch die Freude an einer neuen Kirche und durch wohlgeordneten Gottesdienst immer besser und glücklicher, allerdings auch etwas selbstbewußter werden? … Das sind Fragen, die sich dem denkenden Menschen aufdrängen…”
Im “Hausfreund” vom 15. März werden Bürgermeister und Gemeinderat direkt angegriffen mit Worten wie “Selbstsucht” oder “mit dem Bürgermeister an der Spitze, den Kirchenbau zu hintertreiben und in unbestimmte Ferne zu drängen” und daß der Gemeinderat eine “große Null” sei. Bekanntlich ging es ja seitens des Gemeinderates um die Überlassung des alten Friedhofes und die Anlage eines neuen. Im vorliegenden Artikel erfahren wir auch, daß Pfarrer Kugelmeier in der Kirchenangelegenheit einschließlich Friedhof einen direkten Appell mit einer Unterschriftenliste an den Regierungspräsidenten nach Köln gerichtet hat – damals offensichtlich ein völlig üblicher Weg, der zu heftigen Reaktionen Anlaß gab. Zitat aus dem “Hausfreund”: “Die unterzeichneten Pfarreingesessenen von Blatzheim machen hierdurch bei der Königlichen Regierung zu Cöln ihren Wunsch und Willen kund, daß … ohne jeden Aufschub, sobald wie nur immer möglich begonnen werden soll.”
Die Gemeindemission, die so hervorragend besucht war, die Neugründung des Müttervereins, der Marianischen Jungfrauenkongregation, der Marianischen Jünglingskongregation, die anstehende Vereinigung der Männer sowie die Petition nach Köln wertet Pfarrer Kugelmeier als Zustimmung für sein intensives Eintreten für den sofortigen Kirchenbau. So frohlockt er gleichsam am 29.3.1914:
“Das Volk stand auf, Der Bau geht los;
Wer legt die Hände feig in den Schoß?”
Die Frage: ‘Soll gebaut werden, soll später gebaut werden’ ist gelöst und die Antwort der Gesamtheit ist: ‘Es muß gebaut werden, es soll recht bald gebaut werden, so bald nur eben möglich.’ … Der Volkswille hat gesprochen und Vox populi,vox Dei. Die Stimme des Volkes ist Gottes Stimme…. Es wäre eine abscheuliche, schwere Sünde und Schande, unter solchen Umständen warten zu wollen.”
Allgemein gehaltene Artikel wie “Menschenkenntnis Von A. Geradeaus” oder “‘Viehställe’, ‘Menschen-Wohnungen’, ‘Gottes-Häuser’. Plauderei von Dr. Grobian” folgen am 10.5.1914 und zielen ohne jeden Zweifel auf die Blatzheimer Verhältnisse: “Beim Militär sagt man: ‘Der Mensch fängt erst mit dem Leutnant an’, beim Zivil aber heißt es: ‘Wenn das erste hunderttausend Mark überschritten ist, wird man zum Menschen.’ Eine Ausnahme von dieser Regel wäre, wenn man einen hohen Titel, einen sehr vornehmen Namen hätte, etwa vom Adel stammte. … Vor dem reichen, fein gekleideten Menschen zieht man den Hut, vor dem Hochgeborenen macht man Bücklinge, dem Titel beweist man Ehrfurcht – und den armen Menschen läßt man unbeachtet laufen. Da aber Besitz, Adel, Titel und dergleichen nur zufällige Äußerlichkeiten sind …, so zieht man ja wahrhaftig den Hut vor dem toten Metall, macht Bücklinge vor einem leeren … Worte … Deshalb bin ich bei meiner geringen Menschenkenntnis dahin gekommen, arme, unscheinbare Menschen mindestens so respektvoll zu grüßen, wie andere, die sich weiß Gott mehr dünken. …Wer … seine Mitmenschen nicht als ebenbürtig ansieht, der verdient den Namen Mensch nicht, sondern ist eine Karikatur, ein entartetes Geschöpf, ein Ausbund großer Torheit [14] …”
Als Kugelmeier diese Zeilen schrieb, stand seine Versetzung schon fest: am 20. Mai 1914 verließ er Blatzheim. Läßt man Ironie und Schärfe der Artikel einmal beiseite, so scheint in Kugelmeier jemand sichtbar zu werden, der sich vorbehaltlos für das “einfache Volk” einsetzte, der Wert legte auf den Willen der Mehrheit, der offensichtlich ein Demokrat war.
Die Frage ist, konnte Pfarrer Kugelmeier wirklich glauben, an den Gremien Kirchenvorstand (Kirchenneubau, Geldfrage) und Gemeinderat (Friedhofsfrage) vorbei bzw. gegen sie so radikal, mit solchen Worten – abgesehen von den tatsächlichen Schwierigkeiten (vgl. Kap.5) – , “nur” mit dem Druck des Volkes sein Ziel zu erreichen, zu einer Zeit, als noch der Kaiser herrschte, als in Teilen Deutschlands – so auch in Blatzheim – das preußische Dreiklassenwahlrecht bestimmend war?
Oder schrieb er letztlich immer schärfer, weil er wußte, daß er versetzt werden sollte? In einem Brief vom 16.3.14 schrieb er an von Loe: “Zwar habe ich angedeutet, daß ich das Feld räumen, d.h. den Staub von den Füßen zu schütteln gedächte und Spaß war mir das nicht. Einstweilen aber bin ich noch da, und so lange ich noch da bin, tue ich, was ich kann. … Da sich der Kirchenbesuch und Gott dank auch der Sakramentenempfang hierselbst sehr gehoben hat, so sind des Raummangels im Gotteshaus wegen, unhaltbare Verhältnisse entstanden. Ich werde pflichtgemäß den Kirchenbesuch und Empfang der hl. Sakramente noch zu heben und zu fördern suchen. … Besser auch ein kurzer gesunder Krieg, eine flott kräftige Auseinandersetzung, als ein langer fauler Friede, bei dem die Massen verderben [15].”
Aber auch ca. 30 Jahre später schreibt Kugelmeier noch: “Es ist schlimm, wenn die Obrigkeit die Volksseele eines Ortes nicht kennt, nicht versteht, falsch behandelt. Mit Katzebuckeln vor Reichtum, hohem Stand und Namen ist dem Volk nicht gedient. Das Volk will Liebe, Anerkennung, Berücksichtigung. Das Volk sucht Hilfe in der Not und nicht Steine statt Brot [16].”
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Die Reaktion der “Gegner”
Einige Zitate kennzeichnen am besten die Stimmung und Schärfe, die bei den Angegriffenen, den sogenannten Kirchenneubaugegnern, herrschte: “…Vom Predigtstuhle aus bekam man nichts zu hören vom ersten und größten Gebot, nichts vom zweiten, was diesem gleich ist. Nein, wie ein roter Faden zieht es sich durch alle Predigten, keine Ausgleichung der Gegensätze, nein nur Verschärfungen derselben. Hie reich, hie arm. Mißbraucht wurde die Ihnen von Gott verliehene Rednergabe zur Ausstreuung von Haß und Zwietracht. Nur Stolz und Hochmut sprach aus allen Ihren Reden. Keine Autorität wurde anerkannt, weder geistliche noch weltliche… An diese Predigten schlossen sich in ihrer Wirkung noch verderblicher die Reden außerhalb der Kirche. Es ist ein leichtes, durch zügellose Reden das ungebildete Volk aufzupeitschen… Nun der Katholische Hausfreund. Ein Erbauungsblatt? … Artikel, deren Inhalt ein von Gemeinheit und Niedertracht strotzender persönlicher Angriff auf einzelne, zuweilen wohl die besten Mitglieder der katholischen Gemeinde Blatzheims waren. Dann dieser gehässige zynische Sarkasmus [17]…” Ähnliche Vorwürfe erhebt Bürgermeister Reichert [18]. Um Verständigung warb offensichtlich noch der stellv. Kirchenvorstandsvorsitzende von Loe. In einem Schreiben an Kugelmeier heißt es, nachdem von Loe mitgeteilt hat, daß er “auf Anfordern des Provinzialkonservators, Herrn Prof. Dr. Renard, den Herrn Regierungsbaumeister Speckmann angewiesen habe, die Grundrisse und Bauskizzen demselben einzureichen und denselben auf Wunsch zu besuchen, um ihm erläuternden Vortrag zu halten”: “…Zunächst stelle ich fest, daß es Gegner des Kirchenbaues, wie Sie im Hausfreund schreiben, in Blatzheim überhaupt nicht gibt… Die Gründe, welche einem sofortigen Kirchenbau widersprechen, sind vielfältiger Art und haben Sie sich denselben vor kurzer Zeit auch nicht entzogen. . . .Wie ich die Sache ansehe, treiben wir auf dem von Ihnen verfolgten Wege weiter der Krisis zu und lehne ich die Verantwortung dafür ab. Aber auch der anderen Ansicht trete ich bei, nämlich, daß nicht im Streit der Kirchenbau gefördert werden kann, sondern nur durch ein friedliches und folgerichtiges Vorgehen, wie es der Kirchenvorstand bisher eingehalten hat. Als ich vor 19 Jahren in die Gemeinde zog, war dieselbe durch Parteiungen zerrissen. In den 8 1/2 Jahren, während deren ich die Geschäfte der Gemeinde als Ehrenbürgermeister führte, habe ich es mir zum Ziel gesetzt, die Einigkeit in der Gemeinde zu fördern. Tief beklagen würde ich es, wenn durch die neueren Vorgänge in die vorher Gott lob einige Gemeinde wieder Streit einziehen würde und so möchte ich auch in dieser Stunde nochmals und trotz allem Geschehenen Ew. Hochwürden bitten, von dem beschrittenen Wege abzustehen [19].”
Aus Sicht des Bürgermeisters Reichert war der Ausgangspunkt für den sich anbahnenden Streit die Haussammlung, die Pfarrer Kugelmeier durchführte. “Seine Erfahrungen hierbei dienten als Stoff zu den Predigten, in welchem der Kirchenneubau zu Betrachtungen über den Idealismus der niederen und Materialismus der höheren Gesellschaftskreise diente… Die Gemeindevertretung der Bürgermeisterei Blatzheim durch die Art des Auftretens des Pfarrers verletzt beschloß in der Sitzung vom 10. Oktober 1913 den Erlaß einer Begräbnisordnung für die Friedhöfe (den alten und den demnächst auszubauenden Friedhof). Der Propaganda für den Kirchenneubau sollte durch die Aufnahme der Vorschrift, daß der alte Friedhof zu keinerlei Bauzwecken vor Ablauf von 10 Jahren freizugeben ist, ein Riegel vorgeschoben werden2O.” Diese Vorschrift trat jedoch “mangels gesetzlicher Berechtigung” nicht in Kraft. Der Bürgermeister hatte Kreis und Regierungspräsident darauf hingewiesen.
Fest steht offensichtlich, daß diese Vorschrift als Vergeltung gegen den Pfarrer beschlossen worden ist. Pfarrer Kugelmeier reagierte mit seinen Vorwürfen über die Zustände auf dem alten Friedhof (vgl. Kap. 6, “Hausfreund” vom 16.11.1913); der Streit eskalierte. Mehrere Beschwerden gingen auch an den Regierungspräsidenten. Bürgermeister und Gemeindevertretung waren gefordert. Dem Regierungspräsidenten mußte berichtet werden. Zur “Friedhofsangelegenheit” nahmen der Totengräber und der Polizeisergeant Stellung: tatsächlich fanden sich “vereinzelte Knochen in einer Gesamtmenge, die der Polizeisergeant mit beiden Händen tragen konnte. Diese Knochenreste wurden sofort beigesetzt [21].” Später schreibt der Bürgermeister: “Tatsache ist, daß öfter Hunde aus dem an den Friedhof anstoßenden Schlachthaus … Knochen nach dem Friedhof schleppen und dort weil ungestört abnagen [22].” Zu den Zuständen auf dem Friedhof nimmt Kugelmeier in seinem Rückblick noch einmal Stellung: “Eines habe ich wenigstens doch in Blatzheim durch entschiedenes Vorgehen erreicht. Die überaus skandalösen pietätlosen Zustände des Zivilgemeinde-Friedhofes nahmen ein Ende [23].”
Zwischenzeitlich lag der Gemeinde ein Antrag des Kirchenvorstandes vom 15. Dezember 1913 um Überlassung des Friedhofsgeländes vor. Da offensichtlich die Angelegenheit nicht weiterging, hatte sich Pfarrer Kugelmeier am 26.2.1914 an den Regierungspräsidenten gewandt, der ihm am 21.3.1914 antwortete, “daß die Vorarbeiten für die Anlage eines neuen Friedhofes bereits seit längerer Zeit im Gange sind. Die Benutzung des neuen Friedhofes wird erfolgen können, wenn die erforderlichen Voraussetzungen – Genehmigung der Begräbnisordnung erfüllt sind. Die landespolizeiliche Schließung des alten Friedhofes wird stattfinden, sobald die Prüfung der Verhältnisse die Notwendigkeit dieser Maßregel ergeben haben wird. Ich mache weiter darauf aufmerksam, daß die Verwendung von Friedhofsgelände für den beabsichtigten Kirchenneubau meiner ausdrücklichen Genehmigung bedarf und erst dann erfolgen kann, wenn eine Prüfung betr. die Abkürzung der 40-jährigen Ruhefrist keine Bedenken gegen eine solche Abkürzung ergeben sollte.”
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Kugelmeiers Versetzung
In seiner rückblickenden Betrachtung schreibt Kugelmeier: “Wer objektiv über die Sache dachte und den Mut hatte, ein Urteil abzugeben, hat mir Recht gegeben. Auch die kirchliche Behörde mußte mir Recht geben, meinte aber, ich hätte “diplomatischer” vorgehen sollen. Auch damit waren meine kirchlichen Vorgesetzten einverstanden, daß ich es bei Lage der Dinge besser hielt, die Stelle freiwillig niederzulegen [27].” In seinem Brief an von Loe vom 16.3.14 meinte er: “Zwar habe ich angedeutet, daß ich das Feld räumen, d.h. den Staub von den Füßen zu schütteln gedächte, und Spaß war mir das nicht. Einstweilen aber bin ich noch da, und so lange ich da bin, tue ich, was ich kann [28].”
Nicht nur Kugelmeier selbst, auch andere waren an seiner “freiwilligen” Versetzung aus Blatzheim beteiligt, so z.B. Bürgermeister Reichert: “Infolge der Vorstellung des Unterzeichneten bei dem Herrn Erzbischof ist die Versetzung des Pfarrers angeordnet [29]. Nach dem Bericht Reicherts “betr. Landfriedensbruch” war Reichert am 16. März 1914 beim Erzbischof. Auch Baron von Loe ist wegen einer Versetzung in Köln vorstellig geworden. Im Schreiben vom 7.10.1916 an den Erzbischof beklagt er sich darüber, daß man Kugelmeier nicht rechtzeitig versetzt habe; denn dann wäre es nicht zu den schlimmen Vorkommnissen in Blatzheim gekommen. “Leider verstrich eine Woche nach der anderen und obwohl ich auch eine Reihe von Domherren besuchte und auch sie auf den Ernst der Entwicklung aufmerksam machte, wurde schließlich ein mittlerer Ausweg gefunden, indem man dem Herrn Kugelmeier eine andere Pfarre anbot [30].”
Nach Angaben von Bürgermeister Reichert machte Kugelmeier am 14. April seine Versetzung bekannt. “Es erfolgten nun Deputationen nach dem erzbischöflichen Generalvikariat, welche die Zurücknahme der Versetzung erwirken sollten. Der Pfarrer befolgte nur kurze Zeit nach außen hin eine maßvolle Zurückhaltung, um so mehr wirkten seine Anhänger in geradezu mittelalterlichem Fanatismus. Man verfertigte Eingaben an die kirchlichen und weltlichen Behörden wegen Rückgängigmachung der Versetzung. Am Abend wurden auf öffentlichen Plätzen, wo Kreuze stehen, Gebetsandachten abgehalten für die Aufhebung der Versetzungsverfügung3l.” Die Erregung wuchs, Häuser wurden mit Kot beschmiert, erste Flugblätter und Drohbriefe gegen die “Gegner” wurden verteilt und versandt. Das ganze Blatzheimer “Volk” war auf den Beinen. Später, am 12. Juni 1914, schreibt die Rheinische Zeitung hierzu: “Generalvikar Dr. Kreuzwald in Köln schlug die Bitte der Deputation, den Pfarrer in Blatzheim zu belassen, brüsk mit der Bemerkung ab, die Blatzheimer hätten nichts zu bestimmen. Über die Pfarrei verfüge er, der Pfarrer werde eben versetzt. Begreiflicherweise hat dieses unverständliche Verhalten die Erregung in Blatzheim zur Siedehitze gesteigert.” Erste Schüsse fielen. Mehrere Polizisten wurden nach Blatzheim beordert. “Der Terror mit Gewalttätigkeiten hatte begonnen”, urteilte Bürgermeister Reichert [32].
Daneben forderte der Regierungspräsident über den Landrat eine weitere Stellungnahme vom Bürgermeister, der in seinen Schreiben vom 10.4.14 davon ausging, daß die Schließung des alten Friedhofes frühestens zum 1. Juli würde erfolgen können [24].”
Aufgrund der Auseinandersetzungen war offensichtlich niemand an einer Beschleunigung des Verfahrens interessiert. Die notwendigen Beschlüsse seitens des Gemeinderates wurden nicht bzw. nur mit Verzögerung in Angriff genommen. Hierzu paßte auch der Beschluß des Gemeinderates vom 28. Febr. 1914, dem Antrag des Kirchenvorstandes auf Überlassung des alten Friedhofes nicht oder noch nicht stattzugeben. Darauf ging Pfarrer Kugelmeier massiv gegen die “Gegner” vor (vgl. oben Kap. 6: Märzausgabe des “Katholischer Hausfreund”). Fünf Mitglieder des Kirchenvorstandes reagierten, indem sie folgenden Antrag zur Kirchenvorstandssitzung am 14.3.1914 einbrachten: “Der Kirchenvorstand erblickt in dem Beschluß des Gemeinderates vom 28. Febr. ds. Jrs. keineswegs eine grundsätzliche Ablehnung des Kirchenvorstandes um Überlassung des alten Kirchhofes und beschließt, eine Kommission, bestehend aus den Herren…, einzusetzen, um mit der Civilverwaltung die eingeleiteten Unterhandlungen zu einem Abschluß zu führen… [25]” Baron von Loe geht in seinem Schreiben vom März 14 an Kugelmeier hierauf näher ein: “. ..und so habe ich … eine Vorbesprechung veranlaßt, in der wir beschlossen, im Interesse der aktiven Förderung des Kirchenbaues zur Verhandlung mit der Civilgemeinde die Einsetzung einer Kommission zu beantragen, der Sie aus Zweckmäßigkeitsgründen nicht angehörten, denn es war klar, daß nach den Kränkungen und Angriffen, die Sie gegen Bürgermeister und Gemeinderat soeben erst gerichtet hatten, eine Verhandlung, die Sie an jener Stelle anzuknüpfen unternehmen würden, weniger Aussicht auf Erfolg hatte, … Irrig ist es, wenn Sie meinen, wir hätten über Sie zu Gerichte sitzen wollen. Unter ganz ungewöhnlichen Umständen und bewußt unserer Pflicht und Verantwortung, haben wir lediglich als ernste Männer Rat geschlagen, welcher Weg zum Frieden führen könne, nachdem Sie nicht nur den Gemeinderat, sondern auch uns öffentlich herabgesetzt und verdächtigt hatten…. Und wenn Sie es für zweckmäßig halten mir zu schreiben, Sie würden sich bezüglich Ihrer Artikel im Hausfreund keinen Zensor aus den Mitgliedern des Kirchenvorstandes nehmen oder sich überhaupt Vorschriften machen lassen, so werden Sie sich wohl daran gewöhnen müssen, daß, solange Sie nicht vor dem Ansehen und der Ehre der von der Gemeinde gewählten Körperschaft Halt machen, diese solche Angriffe entsprechend zurückweisen. Zu unserer tiefen Betrübnis haben wir Tags darauf Ihre Antwort von der Kanzel gehört, daß Ihnen ein lustiger Krieg lieber sei. Nur so ist es fast auch zu verstehen, wenn Sie inzwischen Abstand davon genommen haben, der Civilgemeinde mitzuteilen, daß der Kirchenvorstand zur Weiterführung der Verhandlungen eine Kommission niedergesetzt hätte, und indem Sie entgegengesetzt dem gefaßten Beschluß des Kirchenvorstandes nunmehr persönlich als Pfarrer jene Verhandlungen aufgegriffen haben. Dieser Versuch hat infolge der bedauerlichen Lage der Dinge keine Aussicht auf Erfolg, damit ist aber auch für die Verhandlungen der eingesetzten Kommission der Boden erschwert [26].”
Aufgrund ähnlich lautender Passagen in den vorliegenden Briefen wie im Bericht des Bürgermeisters hat man den Eindruck, daß es hier Absprachen zwischen Mitgliedern der einzelnen Gremien gab, zumal einige in beiden Gremien vertreten waren. Fest steht: ein Informationsdefizit untereinander gab es nicht. Fest steht aber auch: Das Porzellan war endgültig zerschlagen; es konnte nicht mehr gekittet werden.
Am 20. Mai 1914 war es dann so weit: Pfarrer Kugelmeier verließ Blatzheim. “Das ganze weinende Volk (war) am Bahnhof [33]:” Nach dem Bericht des Bürgermeisters hat sich Pfarrer Kugelmeier “von dem ca. 400 Köpfe zählenden Publikum” folgendermaßen verabschiedet: “Beruhigt Euch, Ihr Leute, in zwei Monaten bin ich wieder hier.” Am Abend waren ca. 800 Leute auf der Straße. Fensterscheiben wurden eingeworfen; die elektrische Straßenbeleuchtung wurde “böswillig” außer Kraft gesetzt, Laternen wurden eingeworfen; es wurde geschossen und gegen 23.00 Uhr wurde die Feldscheune eines Gutsbesitzers in Brand gesteckt. “Beim Emporlodern der Flammen setzte ein Freudengeheul der Volksmenge ein, welches von einem Ende des Dorfes bis zum anderen Ende sich fortpflanzte.” Am folgenden Tag waren 1.000 Leute auf der Straße [34]. Der Kampf um Kugelmeier war entfacht.
Engelbert Onnau versuchte sogar, den Papst einzuschalten. Er schrieb an seinen Vetter Ludig von Pastor, den Papstbiographen, nach Rom: “Es gibt nur eine Möglichkeit, alles wieder gutzumachen, Kugelmeier muß unbedingt wieder nach Blatzheim. Jedoch wird das Vikariat sich nicht gerne die Blöße geben. Im anderen Falle wird aber in dieser nur katholischen Gegend, wo man die Sozialdemokratie nur dem Namen nach kennt, sich dieselbe unbedingt einbürgern, da die Geschichte von Blatzheim sich über die ganze Rheinprovinz verbreitet hat. Dies ist mein Anliegen: Sollte es Dir möglich sein, zu bewerkstelligen, vielleicht beim Hl. Vater Pius X., daß der Herr Pastor Kugelmeier wieder nach hier kommt, versichere ich Dir im voraus meinen größten Dank sowie den Dank von der ganzen Bürgerschaft von Blatzheim.”
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Kugelmeiers Beliebtheit beim Volk
Regelrechte Begeisterung drückt Onnau in seinem Brief aus: “Die paar Reichen sind leider nicht in der Lage, das liebe gute Herz des Herrn Pfarrers kennengelernt zu haben. Von dem mildtüchtigen, uneigennützigen Charakter, von seinem festen Glauben und inniger Liebe kann nicht genug gesagt werden. Kurz, das ganze Volk sowie ich selber sage: “Er war ein Heiliger, den die Vorsehung zur Verfolgung bestimmt hat.” Er brachte es in zehn Monaten, die er hier war, sonntags von 30-40 auf 3.000 Kommunionen, ohne die Wochentagskommunionen bei 1.600 Einwohnern. Er gründete den Mütterverein mit 300 Mitgliedern, die Marianische Jungfrauenkongregation mit 150 Mitgliedern, den Jünglingsverein mit 120 Mitgliedern, den Katholischen Arbeitsverein “St. Joseph” mit 250 Mitgliedern [35].”
Die Aussage über die 3.000 Kommunionen muß relativiert werden; denn dies war zur Zeit der Mission in Blatzheim vom 8. bis 17. Febr. 1914, wie Kugelmeier selbst in seinem “Hausfreund” vom 1.3.14 schreibt. Überhaupt fällt auf, daß zu dieser Zeit, die auch die Zeit der härtesten Auseinandersetzung zwischen Kugelmeier und seinen “Gegnern” war, die Begeisterung noch mehr zunahm und die Vereinigungen gegründet wurden. Im “Katholischer Hausfreund” vom 29.3.1914 schreibt Kugelmeier: “So war Sonntag der 1. Febr. … ein Freudentag, … denn ich sah über 200 Mütter und Frauen bei der Frühmesse zur Kommunionbank schreiten, nahm wahr, daß nachmittags alle diese in feierlicher Weise dem neugegründeten Mütterverein beitraten. … Dann konnte ich’s zur Vermehrung meiner Freude sehen, wie am Sonntag, dem 22. Febr. ungefähr 150 Jungfrauen unter St. Mariens Fahne sich zusammenscharten und feierlichst in die Marianische Jungfrauenkongregation aufgenommen wurden, die an diesem Tage zur Gründung kam. … Es kam Sonntag, der 8. März. Da schritten in früher Morgenstunde an 100 Jünglinge unter 20 Jahren zum Tische der Herrn. Diese wollten unter keinen Umständen zurückbleiben. … Es wurde … die Marianische Jünglingskongregation ins Leben gerufen. Und die Männer? … Die Männer so höre ich munkeln, wollen eine starke Liga, ein tapferes Apostolat bilden, wollen ein Verein sein, der mutig eintritt für das Wohl der Gesamtheit…” Am 10. Mai, als die Versetzung Kugelmeiers schon lange feststand und auch schon bekannt war, gründete er den katholischen Arbeiterverein. Ein Berichterstatter des Rheinischen Merkur schildert dies im “Hausfreund” folgendermaßen: “… Es dürfte gewiß auch zu einer großen Seltenheit gehören, daß in einer Gemeinde mit nur ca. 1.600 Seelen ländlicher Bevölkerung direkt, sozusagen auf einen Schlag, 170 Mitglieder dem katholischen Arbeiterverein beitreten. … Nicht oft hat Blatzheim eine so imposante Versammlung gesehen, und eine solche Begeisterung erlebt. Mit einem Festzug unter Voranschritt der Bießschen Musikkapelle, wurde der Präses Pfarrer Kugelmeier in den Merken’schen Saal abgeholt und im Nu war der große Raum dichtbesetzt. Das Vorstandsmitglied Jakob Beuth begrüßte den Präses und ließ seine Worte in einem donnernden Hoch auf denselben ausklingen. Darauf richtete Pfarrer Kugelmeier Worte der Begrüßung an die große Versammlung und legte dar, wie in Blatzheim schon längst eine Organisation der Männer und Arbeiter am Platz gewesen wäre. Mißstände und widerwärtige Verhältnisse wie die gegenwärtigen hätten dann vermieden werden können. Um so mehr soll der kathol. Arbeiterverein von jetzt an mitwirken zum Gesamtwohle der Gemeinde, soll unhaltbare Zustände, wie sie vorliegen, entschieden beseitigen helfen.” Nach Schluß der Veranstaltung wurde Kugelmeier wieder mit Musik zu seiner Wohnung zurückgebracht. In der Anmeldung des Vereins beim Bürgermeister ist von einer Mitgliederzahl von 245 Mann die Rede. Eine sehr, sehr große Menge Blatzheimer war jetzt organisiert.
Bürgermeister Reichert sieht diese Gründungen quasi als Kampforganisationen des Pfarrers; vor allem den Arbeiterverein macht er für die Vorkommnisse vor, während und nach der Versetzung Kugelmeiers verantwortlich. “Obgleich die allabendlichen Menschenversammlungen … alles andere als friedliche Gebetsveranstaltungen darstellten, war die Leidenschaft terroristischer Gewalttätigkeiten noch nicht entfesselt. Dazu bedurfte es noch einer Organisation, welche die Theorie der Herrschaftslosigkeit durch Störung der öffentlichen Ordnung mit Gewalttätigkeiten gegen das Leben und Eigentum ihrer Mitbürger in die Tat nach seinem Wegzuge als erbauendes Denkmal für seine kurze Amtsführung als Apostel des Friedens umsetzte. Er gründete am 10. Mai den katholischen Arbeiterverein, … . Die ständige Brunnenvergiftung auf der Kanzel, in den vertraulichen Besprechungen in den Versammlungen katholischer Mütter … verfehlten ihre Wirkungen nicht [36].”
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Auswirkungen von Kugelmeiers Versetzung
Nach der Abreise Kugelmeiers hielten die Unruhen in Blatzheim an. “Weiber mit roten Kopftüchern bekleidet schlugen mit Kochtopfdeckeln und liefen beim Nahen der Polizeibeamten sofort in die Seitenstraßen oder Häuser.” Der Gottesdienst wurde kaum noch besucht, “so daß von einem vollendeten Kirchenstreik gesprochen werden muß. Einzelne Weiber belästigten die Kirchenbesucher, um sie von dem Besuche der einheimischen Gottesdienste abzuhalten oder sie verrichteten die allgemeine Sonntagsfeier störende Arbeiten wie Fensterputzen [37].” Die Straßendemonstrationen gingen weiter, das Besudeln von Häusern hielt an, Straßenlaternen wurden eingeworfen, Gärten verwüstet, Gräber des Blumenschmuckes beraubt, die Reichen angepöbelt. Die Fronleichnamsprozession am 11. Juni unter dem neuen Pfarrer Wolters wurde boykottiert. 700 bis 800 Leute gingen in Kerpen mit. Bürgermeister Reichert beschreibt die Ereignisse so: “In welchem Unfange der Terrorismus die Bürgerschaft ergriffen hat, beweist die folgende Begebenheit: Am 15. Juni nachmittags 5 Uhr fand die Visitation der Pfarrkirche durch den hochwürdigen Herrn Weihbischof Dr. Müller statt. Aus dieser feierlichen Veranlassung hatten gegen frühere Jahre, wo das ganze Dorf in Fahnen und Girlanden prangte…, nur einige überzeugungstreue Katholiken ihre Häuser geschmückt. Der Kirchenbesuch beschränkte sich auf ca. 50 Personen und etwa 10 Kinder. Schmerzlich bewegt richtete der Bischof ernste Worte religiöser Ermahnungen an die im Gotteshaus Versammelten, während 100-120 Personen Männer, Frauen, einzelne davon mit rotem Fez bekleidet, und Kinder teilnahmslos in herausfordernder Weise die Straße besetzt hielten… Dem Sakramente der Firmung blieben die Kinder bis auf 20 % fern, dank des früheren Pfarrers Kugelmeier [38].” Am Sonntag, dem 21. Juni, wurde dann sogar vom Missionskreuz aus auf die Polizeibeamten geschossen. Der Blatzheimer Polizeisergeant wurde verletzt [39]. Im Bericht des Bürgermeisters vom 16. Juli heißt es am Schluß, “daß seit Festsetzung der Rädelsführer … Ruhe in Blatzheim eingetreten ist im bürgerlichen Leben – nicht aber im kirchlichen Leben.”
Verantwortlich für die gesamten Vorkommnisse machte Bürgermeister Reichert neben Pfarrer Kugelmeier vor allem die führenden Mitglieder des Katholischen Arbeitervereins. Die Gutsbesitzer sahen im Wirken Kugelmeiers die Ursache für die Vorkommnisse (vgl. auch Kap. 7): “Was Sie durch Wort und Schrift ausgesät haben, davon haben wir jetzt die Ernte. Eine durch Haß und Zwietracht zerrissene Gemeinde. Unter Ihren Anhängern Brandstifter, Wegelagerer, Mordbuben… Warum haben Sie nicht längst in Ihrem katholischen Hausfreund ein Wort zur Ruhe gesprochen? Sie hätten dann vieles, was Sie durch diese Schrift verschuldet, sühnen können… Wollen Sie noch leugnen, daß Sie die traurigen Ereignisse heraufbeschworen haben? Ereignisse, die noch keine Zeitung richtig geschildert hat…. Wäre der Herr Bürgermeister persönlich nicht so furchtlos und energisch gewesen, wäre Blatzheim wahrscheinlich ein Schutthaufen geworden, ein Raub der Flammen und nicht ein Mordversuch, sondern alle Leute, die nicht Ihres Sinnes waren, wären ermordet worden4O.” Hierauf antwortete Pfarrer Kugelmeier am 3.7.1914 u.a.: “Gewiß verurteile ich alle Exzesse strenger wie Sie…, habe aber die Wurzel viel tiefer gefunden als in meiner kaum neunmonatlichen Anwesenheit… Wenn auch einige des Volkes sich sehr verfehlt haben, so ist damit das Volk noch lange nicht schlecht. Bei diesen einigen ist’s an den Tag gekommen, aber o weh, wenn die Schandtaten einer anderen Gesellschaft an den Tag kämen4l!” Ähnlich hatte er sich am 27.6. im Rheinischen Merkur geäußert: “Indem man andere herausfordert und in rebellische Stimmung zu versetzen sucht, … will man das schreiende, eigene unruhige Gewissen zur Ruhe bringen…. Eines ist gewiß, am Volke liegt die Schuld nicht … Also, Ihr Blatzheimer, wenn ihr glaubt eure Rechte verfechten zu müssen, so tut ihr es selbstverständlich nur mit durchaus erlaubten Mitteln, jede Ruhestörung, jeder Krawall sei ausgeschlossen. … Gehet wieder ruhig in eure eigene Pfarrkirche und kommt dort in derselben eifrigen Weise wie unter dem früheren Pfarrer euren Christenpflichten nach…” Neben dem Aufruf zur Ruhe machte Pfarrer Kugelmeier mehrmals in diesem Artikel seine “Gegener” für die Mißstände in Blatzheim verantwortlich; hierauf gab es Beschwerden beim Generalvikariat, das Pfarrer Kugelmeier erneut strengste Zurückhaltung “in Wort und Schrift” vorschrieb [42]. In einem Schreiben an ein Vorstandsmitglied des katholischen Arbeitervereins vom 16.12.1914 meint Pfarrer Kugelmeier: “Es ist gekommen, wie es kommen sollte und wie es bei den Verhältnissen in Bl. auch kommen mußte. Es ist gut gekommen. Bl. hat marschieren gelernt und kann “Front” machen. Bl. kann kämpfen, und wie man sehen mag, auch Siegen. Die Volksseele läßt sich so leicht nicht überwinden oder verleugnen, man wird immer mit der großen Menge rechnen müssen… Muß nicht das große Volk jetzt den großen Weltkrieg führen…? Man verachte deshalb das Volk nicht, man unterschätze nicht den Wert des gewöhnlichen Mannes. Und wäre das Volk in Bl. in früheren Jahren selbstbewußter gewesen, so selbstbewußt wie jetzt, es hätte dann nicht gegangen, wie es leider in der ersten Hälfte dieses Jahres, zumal in den Monaten Juni, Juli ging… Ruhiges, aber entschiedenes und zielbewußtes Arbeiten muß es bringen. Mit allen und nur mit führend erlaubten Mitteln soll das Volk sein Recht sichern und verteidigen. Bei der letzten Wahl hat man das getan und man hat erreicht, was man wollte … Bl. ist ein Stück gestiegen in meinen Augen [43].” Die letzten Worte zielen auf die Kirchenvorstandswahlen vom 6. Dezember.
Hierzu heißt es in einem Schreiben von Loes an den Grafen Otto Beissel: “Gleichwohl ist es der Opposition gelungen, bei den letzten Wahlen zum Kirchenvorstand und zur kirchlichen Gemeindevertretung ihre Kandidaten durchzubringen, bei etwa 500/o Stimmenenthaltung und gegen 1/5, die ihnen entgegen traten. Dabei waren aber die Kandidaten so gewählt, wenigstens zum Kirchenvorstand, daß gegen die Personen selber nicht allzuviel eingewandt werden konnte. Daß ich auch persönlich gerade in der Wahl stand und unterlag, ist weiter nicht von Belang [44]…”
Viele Blatzheimer waren in den Krieg gezogen; über Kugelmeier und seine “Gegner” wurde noch weiterhin gesprochen; es gab noch Verhandlungen in Köln im Generalvikariat; bis Ende 1916 gibt es noch einen Schriftwechsel von Loes mit dem Kölner Erzbischof; das Thema Kirchenneubau wird weiterhin behandelt; Baron von Loe kehrte wieder in den Kirchenvorstand zurück; Einladungen an ihn ab März 1918 belegen dies; auch die Blatzheimer Pfarrkirche füllte sich wieder. In äußerst schwierigen Zeiten – zur Zeit der Inflation des Jahres 1923 (Pfarrer Wolters am 13.8.1923 an von Loe: “Bei der Genossenschaftskasse in Köln haben wir … 91 Millionen … geliehen”) – wurde mit dem Neubau angefangen.
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Die neue Kirche wird gebaut
Der Erzbischof von Köln Joseph Cardinal Höffner, der anläßlich des sechzigjährigen Jubiläums der Weihe des neuen Gotteshauses am 12. November 1985 in Blatzheim war, sagte in seiner Predigt: “Im Jahre 1923 wurde die alte, spätgotische Kirche abgerissen, und diese neubarocke Kirche gebaut. Ihre Vorfahren haben gespürt, daß die Gemeinde ein Gotteshaus haben muß, das geräumig genug ist, um sich zu versammeln, und den Herrn zu loben. Es rührt einen, wenn man liest, mit welchem Eifer vor 60 Jahren die Gläubigen hier in Blatzheim beim Kirchenbau mitgeholfen haben. Die Landwirte übernahmen ehrenamtlich die Spann- und Fahrdienste. Aus jeder Familie war jemand dabei, der Handlangerdienste verrichtete. Es wird weiter berichtet, daß auch die Kinder mitgeholfen haben, Steine anzureichen, beim Bau dieses Gotteshauses [45].” Das Blatzheimer Volk schien versöhnt; am 12. Juli 1925 wurde die neue Kirche durch Joseph Kardinal Schulte eingeweiht.
Versöhnlich zeigt sich auch Kugelmeier in seinem Rückblick: “Wer heute noch lebt von den Kirchenbauaufschiebern, weiß ich nicht. Es waren nur wenige, von diesen werden weniger noch leben. Vielleicht liest einer von ihnen dieses Buch und findet so den “Haudegen” von anno dazumal wieder. Ich drücke ihm – alt wird er geworden sein wie ich – die Hand, wenn er sie mag und frage: “Na wie steht’s, wie denken Sie heute über die Vorgänge in Blatzheim?” Es brauchte nicht so zu kommen. Ja, durch Schaden wird man klug … Dem alten Turm danke ich an dieser Stelle, daß er damals tapfer mit mir gekämpft hat. Ich freue mich, daß er fest stehen geblieben ist und doch endlich die neue Kirche angebaut bekam [46].”
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Historische Einordnung
Am 12. Januar 1912 und bei den anschließenden Stichwahlen wurde die SPD stärkste Reichstagspartei: Die Mandate schnellten von 43 auf 110 empor; der Anteil der SPD an der Gesamtstimmenzahl war auf 34,8 % gestiegen. Der Sieg bei den Reichstagswahlen war ein sensationeller Erfolg; die Arbeiterschaft im Kaiserreich hatte ihre Stärke bewiesen; das Machtbewußsein der Arbeiter insgesamt war gestärkt – auch dort, wo von den Arbeitern noch andere Parteien wie das Zentrum gewählt worden waren, z.B. in Blatzheim.
Dem allgemeinen Wahlrecht bei den Reichstagswahlen stand bei den Wahlen zum Gemeinderat und zur zweiten Kammer des preußischen Landtages bis 1918 das ungleiche und indirekte preußische Dreiklassenwahlrecht gegenüber. Dabei wurden die Wähler entsprechend ihrem Anteil am Steueraufkommen in drei Klassen eingeteilt, wobei jede Klasse eine gleich große Anzahl von Wahlmännern stellte. Aufgrund ihres geringen Steueraufkommens blieben die Stimmen der Massen der Arbeiter relativ wirkungslos, die Oberschicht dagegen verfügte über einen großen Einfluß bei der Zusammensetzung der Gemeinderäte und der zweiten Kammer des Landtages. So waren auch im Gemeinderat von Blatzheim die Gutsbesitzer und reichen Bauern die bestimmenden Persönlichkeiten.
In Blatzheim gab es neben dieser Oberschicht die sog. Mittelschicht, bestehend aus Kleinbauern und Handwerkern und Geschäftsleuten; die untere Klasse bestand aus den Arbeitern – den Land- und Fabrikarbeitern und den Arbeitern in den Handwerksbetrieben.
Blatzheim war an das Eisenbahnnetz angeschlossen; somit war die Möglichkeit gegeben, daß auch immer mehr Blatzheimer im Braunkohletagebau und in den Brikettfabriken, die seit 1890 einen immer größeren Markt eroberten, Arbeit fanden. Die Abhängigkeit von den Gutsbesitzern und Großbauern, wo viele bisher als Knechte arbeiten mußten, ließ immer mehr nach. Die Grubenarbeiter, wie sie damals hießen, erweiterten durch Veränderung ihres Arbeitsplatzes ihr Blickfeld, erkannten ihre eigene Stärke. Dies hatte in einem Dorf wie Blatzheim, wo man seine Freizeit zum Teil an der Theke verbrachte und miteinander redete, sicherlich Auswirkungen. Auch die Ackergehilfen, Lohnarbeiter, Pferdeknechte wurden sich allmählich ihrer abhängigen Position bewußt. Sicherlich nicht von ungefähr waren Leute mit eben genannten Berufsbezeichnungen nach dem Bericht des Bürgermeisters führend an den Unruhen in Blatzheim beteiligt. Hinzu kamen Leute des Mittelstandes wie Ackerer (einfache Bauern) oder Maurer (Handwerker).
Nach dem Erlaß der Enzyklika “Rerum novarum” durch Papst Leo XIII. am 15. Mai 1891 – die Enzyklika gilt als grundlegende Stellungnahme der katholischen Kirche zur sozialen Frage – entwickelten sich in Deutschland auch katholische Arbeitervereine, die quasi als Vorstufe zu den christlichen Gewerkschaften gedacht waren. Die Vereine standen unter geistlicher Führung, sie sollten sich um kirchlichreligiöse Betreuung kümmern, sollten den Sozialismus abwehren und die Arbeiterschaft “von der Klasse zum Stand” erziehen. Direkt gewerkschaftliche oder politische Aufgaben hatten die katholischen Arbeitervereine nicht [47]. Wie oben dargestellt, kam es auch in Blatzheim zur Gründung eines katholischen Arbeitervereins, in dem wegen der besonderen Blatzheimer Verhältnisse nicht nur Arbeiter Mitglieder waren. Bürgermeister Reichert sah dies so: “Den Herd der Kampfstätte bildet der von dem früheren Pfarrer als “Vermächtnis” gegründete kath. Arbeiterverein, dem die Arbeiter und der ganze Mittelstand der kleinen Landwirte und Gewerbetreibenden heute angeschlossen ist [48].” Der von Kugelmeier gegründete Arbeiterverein wird Monate später auch vom Erzbistum anerkannt. Der neue Pfarrer Wolters wird Präses [49].
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Versuch einer Wertung
In der eben geschilderten allgemeinen sozialen, gesellschaftlichen, politischen Situation kam Pfarrer Kugelmeier nach Blatzheim. Äußerlich war die Situation in Blatzheim friedlich. Man hatte von alters her noch Achtung und zeigte Unterwürfigkeit gegenüber den Höhergestellten, auch wenn man nicht mehr direkt abhängig war. Der königliche Kammerherr und Abgeordnete des preußischen Landtages, der Baron von Loe, z.B. war noch wer; der Adel galt noch etwas. Man hörte auf die Obrigkeit. Letzteres galt natürlich auch für die geistliche, den Pfarrer. In diesem kleinen Ort Blatzheim mit seinen geschilderten Verhältnissen traf der welterfahrene, gern bauende Pfarrer Kugelmeier auf den Baron, der offensichtlich in den letzten Jahren weitgehend den Kirchenvorstand geführt hatte, auch auf die anderen Mächtigen des Dorfes und fand sich mit Verhältnissen konfrontiert (Friedhofsfrage, Geldfrage), die nicht sofort gelöst werden konnten. Die vorliegenden Unterlagen belegen, daß tatsächlich aufgrund mangelnder Pläne, Beschlüsse, bürokratischer Hemmnisse der Kirchenneubau innerhalb kürzester Zeit nicht möglich war. Dem Argument von Dr. Geisler in seiner WDR3-Sendung, der Anlaß sei gewesen, “daß Kugelmeier ein Darlehen der Kirchengemeinde von über 100.000 Mark, das diese dem Großgrundbesitzer Freiherr von Loe zum niedrigen Zinssatz von 2,5 Prozent zur Verfügung gestellt hatte, für den Neubau der baufälligen Kirche zurückforderte”, kann deshalb nicht gefolgt werden. Geisler stützt sich offensichtlich auf Aussagen alter Blatzheimer; denn in den Akten und im Schriftwechsel ist hierzu nichts zu finden. Tatsache ist, daß es Kugelmeier einfach zu langsam weiter ging. Dies bemängelte er immer wieder im katholischen Hausfreund, was wiederum eine Reaktion der Gegner hervorrief: statt zu beschleunigen, versuchte der Gemeinderat sogar, die Angelegenheit zu verschleppen. Hierzu hatte natürlich die oftmals zynische, angreifende Wortwahl Kugelmeiers im Hausfreund und in den Predigten beigetragen.
Aus der Kirchenbaufrage war eine Machtfrage zwischen Kugelmeier und den entscheidenden Gremien bzw. Personen geworden. Die Machtfrage verlagerte sich allmählich und wurde zu einer Auseinandersetzung zwischen “Arm und Reich”. Kugelmeier wird jetzt als aufrechter Demokrat sichtbar, der sich für alle im Dorfe einsetzt. Man hatte ihm sicherlich auch einige Gerüchte über den Lebenswandel einiger sog. Reicher zugetragen (Flugblätter und anonyme Schreiben belegen dies indirekt). Die Predigten gefielen natürlich dem sog. Volk. Die Menge, bisher machtlos und brav, nicht wagend, etwas zu sagen, hatte ein Sprachrohr gefunden, das bisher verborgene Wünsche freisetzte. Eine regelrechte Begeisterung für Kugelmeier setzte ein. Zur Stärkung seiner Position aber ebenfalls als Ausdruck der allgemeinen Stimmung gründete er die katholischen Vereinigungen. Kugelmeier selbst schrieb dazu später: “… Dazu gründete ich auch all die von der Zeit geforderten Kongregationen und Vereine in Blatzheim [50].”
Der Blatzheimer Kirchenstreit ließ als Ursache also bisher verdeckte gesellschaftliche Spannungen erkennen, ließ indirekt durch die Beteiligung aller Blatzheimer in den kirchlichen Vereinigungen den Wunsch nach mehr Beteiligung an der Macht sichtbar werden. Versammlungen und Petitionen sind Belege hierfür. Kugelmeier war es, der den Blatzheimern dies alles vor Augen führte und ihnen ein Gefühl von Mitbeteiligung gab – aus heutiger Sicht eine hervorragende Leistung. Nur: 1913/14 war er seiner Zeit voraus; er konnte nicht alles in Blatzheim innerhalb weniger Monate “umkrempeln”. Er war ein Priester; er hätte zum Ausgleich beitragen müssen. Daß er das Gegenteil tat, bewirkte letztlich seine Versetzung [51].
- Anmerkungen
- H.E. Onnau, Die Pfarrgeistlichen von Blatzheim, Ein Beitrag zur Geschichte der Pfarreien der Erzdiö-zese Köln. In: Kerpener Heimatblätter 2/1973, 5. 171.
2. Kopie des Manuskriptes u.a. im Stadtarchiv Kerpen, Kirchenstreit 1914, auch die übrigen zitierten Schriftstücke sind unter dem Stichwort “Kirchenstreit 1914” zu finden.
3. Vorwiegend nach: Erinnerungen an P. Arnold Janssen, Gründer des Steyler Missionswerkes. Hrsg. von Fritz Bornemann, 2. Auflage St. Augustin 1974, 5. 434 ff.. Die Zitate stammen aus dem Buch Borne-manns; vgl. auch Onnau, a.a.O., 5. 171.
4. Brief in Abschrift im Stadtarchiv Kerpen.
5. So Kugelmeier im Brief vom 3.7.1914; sh. Anm. 4.
6. Rheinische Zeitung vom 29.5.1914, 12.6.14, 16.6.14; Mühlheimer Volkszeitung vom 27.6.14; Kopien im Besitz des Verfassers.
7. Brief des Engelbert Onnau an seinen Vetter Ludwig von Pastor. In: H.E. Onnau, Anna Sybille Onnau – Mutter des Papsthistorikers Ludwig von Pastor nebst Ahnenliste und Originalbrief des Blatzheimers Engelbert Onnau nach Rom vom 15. Juni 1914 über den sogenannten Katholikenstreit in Blatzheim, Kerpener Heimatblätter 2/1982, 5. 102 ff..
8. Archivum Generale SVD, Rom, Nachlaß Augustinus Kugelmeier; es handelt sich hier um ein Manu-skript Kugelmeiers mit dem Titel: “‘Behauene Bausteine’ eines stark bewegten Lebens mit allerlei Ver-putz. Nur Wahrheit, keine Dichtung.” 304 Seiten, abgeschlossen ca. 1940; 1964 von Fräulein Gerta Kugelmeier dem Generalats-Archiv überlassen. Vgl. Bornemann, a.a.O., 5. 435. Die Seiten 247-250 be-treffen Blatzheim. Der Curia Generalitia Societatis Verbi Divini in Rom sei für ihre Übersendung der Kopien am 7.4.1988 herzlich gedankt.
9. Bericht des Bürgermeisters Reichert vom 16. Juni 1914 betr. Landfriedensbruch, 5. 1; Stadtarchiv Kerpen.
10. So z.B. Kugelmeier in seinem Manuskript a.a.O., 5. 248; Bürgermeister Reichert spricht von 100-110.000 Mark an Geld und Landstiftungen nebst den inzwischen aufgelaufenen Zinseszinsen, a.a.O., 5. 4.
11. Abschrift im Brief des Baron von Loe vom 22.5.19 15 an “Se. Eminenz den Herrn Erzbischof von Cöln Felix von Hartmann”. Kopie im Stadtarchiv Kerpen.
12. Kopie im Stadtarchiv Kerpen.
13. a.a.O., 5. 250 u. 5. 248; vgl. Anm. 8.
14. Kopien und Originale des “Katholischer Hausfreund” im Stadtarchiv Kerpen und im Besitz des Ver-fassers.
15. Abschrift im Stadtarchiv Kerpen.
16. Kugelmeier im Manuskript 5. 249; vgl. Anm. 8.
17. Brief eines Gutsbesitzers vom 29.6.19 14 an Kugelmeier; beglaubigte Abschrift im Stadtarchiv Kerpen.
18. an versch. Stellen seines Berichtes; sh. Anm. 9.
19. v. Loe an Kugelmeier als Antwort auf dessen Brief vom 16.3.14; evtl. geschrieben am 21.3.14; Kopie im Stadtarchiv Kerpen.
20. Bericht des Bürgermeisters a.a.O., 5. 4 f..
21. Stadtarchiv Kerpen.
22. Bericht a.a.O., 5. 6.
23. a.a.O., 5. 249; vgl. Anm. 8.
24. Schriftstücke im Stadtarchiv Kerpen.
25. Kopie des Antrages im Stadtarchiv Kerpen.
26. Sh. Anm. 19; ähnlich in seinem Schreiben an den Erzbischof vom 22.5.1915 und 15.11.1915. Kopien im Stadtarchiv Kerpen.
27. a.a.O., 5. 248; vgl. Anm. 8.
28. Kopie im Stadtarchiv Kerpen; vgl. auch Anm. 19.
29. Schreiben des Bürgermeisters Reichert an den Landrat vom 24.4.1914; Stadtarchiv Kerpen.
30. Brief vom 7.10.19 16 an den Kölner Erzbischof; Kopie im Stadtarchiv Kerpen.
31. Bericht des Bürgermeisters, a.a.O., 5. 16.
32. Bericht des Bürgermeisters, a.a.O., 5. 23.
33. Brief des Engelbert Onnau; sh. Anm. 7.
34. Bericht des Bürgermeisters, a.a.O., 5. 27 ff..
35. Brief des Engelbert Onnau; sh. Anm. 7.
36. Bericht des Bürgermeisters a.a.O., 5. 21 f..
37. Bericht des Bürgermeisters a.a.O., 5. 32 u. 33.
38. Bericht des Bürgermeisters a.a.O., 5. 38 f..
39. Bericht des Bürgermeisters a.a.O., 5. 43 und Vernehmungsprotokoll der Polizeibeamten vom 22. Juni 1914; Stadtarchiv Kerpen.
40. sh. Anm. 17.
41. Abschrift im Stadtarchiv Kerpen.
42. Brief des Generalvikars Dr. Kreuzwald vom 18.7.14 an den Regierungspräsidenten; Stadtarchiv Kerpen.
43. Kopie des Briefes im Besitz des Verfassers.
44. Kopie im Stadtarchiv Kerpen; Datum ist nicht genau zu ermitteln.
45. Die Predigt ist veröffentlicht unter dem Titel “Kardinal Höffner an die Blatzheimer Pfarrgemeinde”, herausgegeben von Pfarrer Smialek, Blatzheim 1987.
46. Kugelmeier im Manuskript 5. 249 f., sh. Anm. 13.
47. Helga Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, München, 2. Aufl. 1966, 5. 125 ff.; vgl. auch die Satzungen des Katholischen Arbeiter-Vereins Blatzheim, Stadtarchiv Kerpen.
48. Brief des Bürgermeisters vom 15.6.14 an den Landrat; Stadtarchiv Kerpen.
49. Brief Wolters vom 23.11.14 an von Loe; Kopie im Stadtarchiv Kerpen.
50. Manuskript 5. 250; vgl. Anm. 8.
51. Aufgrund der Unterlagen und geführten Gespräche komme ich zu vorliegender Bewertung; manch ei-ner mag zu einer anderen gelangen; daher habe ich mich bemüht, genügend authentisches Material in diese Arbeit einfließen zu lassen.